Sunday 19 May 2013

FREUNDLICHKEIT AM MÄRTPLATZ


Heute besuchten wir die Stiftung Märtplatz in Rorbas-Freienstein. Es war ein wunderschöner Tag und eine ganz spezielle Erfahrung.

Die Stiftung Märtplatz wurde im Jahr 1985 von Jürg Jegge und Lorenz Bosshard gegründet. Sie wollten damals zusammen 'etwas Neues machen, etwas Lustigeres als eine Schule oder eine Institution, wie sie es damals gab. Für Leute, die in der Schule seelische oder soziale Schwierigkeiten hatten.' (vgl. Zürcher Unterländer; Mittwoch, 7. Dezember 2005, Seite 3)


Im August 2011 übernahm Kuno Stürzinger die Leitung und er hat uns heute auch durch den Märtplatz geführt und uns begleitet. (Tusen takk :-))

Der Lernort in Rorbas-Freienstein bietet Berufsbildung an für Personen, die aus verschiedenen Gründen besondere Unterstützung benötigen. 30 Personen ab 18 Jahre alt, mit sozialen und psychischen Schwierigkeiten, machen hier ihre Berufslehre. Viele von ihnen sind desintegriert in der Gesellschaft und instabil. Sie benötigen dringend Unterstützung damit sie wieder überhaupt einen geregelten Tagesablauf bewältigen können. Andere haben mit psychischen Problemen zu tun, sind IV Bezieher oder sie haben aus sonstigen Gründen Probleme, die es für sie schwierig machen eine reguläre Berufsausbildung zu absolvieren. Auch die Jugendanwaltschaft weisst bisweilen Leute auf den Märtplatz hin. Heute hat die Ausbildungsstätte nämlich einen ganz guten Ruf; die Erfolgs-Chancen für Lernende die hierher kommen liegen überdurchschnittlich hoch.

Und was ist es genau für ein Erfolg den man sich erhofft, wenn man zu Märtplatz kommt? Es geht vor allem um die (Wieder-) Eingliederung in der Gesellschaft. Autonomie als Mensch, also. Die Lernende die hier eine Lehre absolvieren, wohnen somit alleine in Wohnungen in der näheren Umgebung. Jürg Jegge sagt: 'Es ist uns wichtig, dass die Leute möglichst selbstständig sein können. Mit allen Nachteilen, die es mit sich bringt. Das selbständige Wohnen ist kaum überblickbar und kontrollierbar schon gar nicht.' (vgl. Zürcher Unterländer; Mittwoch, 7. Dezember 2005, Seite 3)

Trotzdem ist das Alleine-Wohnen ein Teil des Prozesses. Für Kuno Stürzinger ist das heute immer noch eins von den Punkten, den ihm am meisten belastet; wie viel Autonomie, wie viel Unterstützung braucht ein Mensch? Dass es hier um individuellen Antworten geht, ist ganz klar, was natürlich die Problemstellung noch komplexer macht. Es scheint aber so, als ob diese Selbständigkeit und das Vertrauen an den Menschen das so deutlich wird, tatsächlich ein Teil des Erfolgskonzeptes ist.

Wenn wir den Märtplatz mit unseren regulären Schweizer Berufsausbildung vergleicht, wird uns folgendes klar. Der Märtplatz entspricht den betrieblichen Teil der Ausbildung, wobei die Lernende hier sehr viel intensiver als gewöhnlich unterstützt werden. Nur gerade 2-3 Lernende gibt es hier pro Lehrmeister. Dies - und die Tatsache, dass die Betriebe am Märtplatz keine regulären Firmen sind mit Zeit- und Wirtschaftsdruck von Aussen, - macht die Lehre sehr viel angenehmer für die Lernende. Der Lehrmeister kann sich so auch vollumfänglich den Lernenden widmen und muss sich nicht darum kümmern Kunden zu akquirieren oder Aufträge einzuholen. Der Druck der Lernende wird drastisch reduziert und das macht wiederum einen Teil des Erfolgskonzeptes aus. Noch ein kleiner Unterschied also, der den Unterschied macht.

Der schulischen Teil wird im idealfall an der Berufsfachschule absolviert. Wenn es schulische Probleme gibt, wird intensive Unterstützung und Coaching vom Märtplatz anerboten. Leider aber haben viele Lernende hier so ernsthafte soziale Probleme, dass ein regelmässiger Besuch der Berufschule unmöglich wird. In diesem Fall ist es gemäss Paragraf 32 der Berufsbildungsverordnung möglich, bei eine mindest-Berufserfahrung von 5 Jahren, zur Berufsausbildung zu gelangen ohne regelmässig die Berufsschule besucht zu haben. Statt einen Lehrvertrag am Märtplatz wird dann ein Ausbildungsvertrag unterschrieben. Letztendlich gibt es auch die Möglichkeit andere Berufsausbildungen zu absolvieren, z. B. in Österreich. Die Berufsausbildung dort wird nachträglich in der Schweiz als gleichwertig anerkannt. Es wird also mit allen Mitteln für die Lernende am Märzplatz gekämpft.

Die überbetrieblichen Kursen führen normalerweise nicht zu Problemen. Es gibt hier ganz anderen Anforderungen als in der Berufsfachschule, und diese anderen Rahmenbedingungen entsprechen den Lernenden eher. Darum gibt es auch weniger Probleme bei den üKs als in der Berufsschule.

Insgesamt arbeiten für die ca. 30 Lernende am Märtplatz 22 Personen verteilt auf 17 Vollzeit-Stellen. Das ganze kostet eine Menge Geld, mehr als 2 Millionen werden jedes Jahr für die Stiftung budgettiert. Es gehört zur Philosophie aber, dass die Werkstätte am Märtplatz kein oder nur wenig Geld einnimmt. Darum ist es essentiell, dass die Stiftung zu einem grossen Teil von der IV unterstützt wird. Die IV bezahlt oft vollumfänglich für die Lernende, da dies doch sehr viel billiger wird als allenfalls ein lebenlang IV-Bezieher ohne Arbeitschancen zu unterstützen.  Teilweise kommt auch Unterstützung von der Jugendanwaltschaft, aber immer noch werden Spendengelder dringend benötigt.

Zur Zeit können ca. 10 Berufsgattungen hier gelernt werden. Diese umfassen den Bereichen Betriebsunterhalt EFZ/EBA (vgl. Hauswart), Medienfachleute (beispielsweise Grafiker und Texter), Photofachleute, Keramiker und Keramik-Maler, Maler, Veranstaltungsfachleute (vgl. Bühnentechniker), Koch EFZ/EBA, Polsterer, Steinhauer und Bekleidungsgestalter EFZ/EBA (vgl. Schneider). 

Grundsätzlich können jede die eine derartige Unterstützung braucht hierher kommen. Allerdings gibt es nur ungefähr 10 Ausbildungsplätze pro Jahr. Auch ist es wichtig, dass die Lernende intrinsisch motiviert sind. Ohne die eigene Wille der Lernenden, kann selten im Coaching-Beriech viel erreicht werden. 

Es gibt grosse Freiräume für die Lernende und nur wenige fixe Regeln. Diese gelten aber dafür zu 100%. Beispielsweise gibt es zwei Ausschlusskriterien, die sehr streng befolgt werden. Erstens wird kein Gewalt gegen aussen toleriert. Schon zu Jürg Jegge's Zeit hat es geheissen:  Es ist schon vorgekommen, dass wir jemanden, der gewalttätig war und trotz ernsthaften Ermahnungen auch nicht davon abgelassen hatte, vor die Tür stellten. (vgl. Zürcher Unterländer; Mittwoch, 7. Dezember 2005, Seite 3) Das andere Kriterium ist excessive Drogenmissbrauch während der Arbeit. Auch wird die Freundlichkeit hier gross geschrieben. Vieles wird besser mit ein wenig Freundlichkeit. Man muss nicht immer mit allem einverstanden sein, aber freundlich darf man trotzdem sein.

Vertragsauflösungen gibt es selten. Und wenn es mal zu einer Auflösung kam, war es meistens wegen Krankheit der Lernende und nicht wegen Gewalt oder Drogenmissbrauch.

Wieso ist denn dieses Konzept so erfolgreich? 
Erstens nimmt es den Druck weg von den Lernende. Druck der in der heutigen Gesellschaft oft im Berufssituationen vorhanden ist. Ohne Druck lässt sich vieles besser bewältigen, - auch eine unmöglich erscheinende Berufslehre. Auch ist man grundsätzlich freundlich, positiv und offen den anderen gegenüber und diese gegenseitige Akzeptanz und Offenheit fördert die persönliche Entwicklung.

Mit einer Lehre am Märtplatz ist die Eingliederung in der Gesellschaft nicht einfach automatisch getan. Nach der geschützen Lehrzeit braucht es immer noch intensive Coaching und Unterstützung um eine geeignete Stelle und eine eigene Wohnung zu finden, - um im Leben erfolgreich zu sein, also. Die Erfolgszahlen sprechen aber für sich: Nach der Zeit am Märtplatz leben fast die Hälfte der Absolventen ohne jegliche staatliche Unterstützung. Das ist überdurchschnittlich hoch, wenn man mit anderen ebenbürtigen Lernwerkstätten vergleichen. Ca. 15% der Abgänger werden teilweise durch die IV oder Sozialhilfe unterstützt werden müssen und letztendlich sind es ca. 36% die immer noch gänzlich auf sozialen Unterstüztung angewiesen sind. (Vgl. dazu Christians Ausführungen in unseren Klassenblog.) - Ein klarer Erfolg dieses Konzeptes und eine unglaubliche Leistung von allen Beteiligten. Hut ab!

Hut ab auch für den feinen Apéro am Schluss. Ein Apéro zum Einstimmen auf's Abschliessen. Freundlichkeit, ganz gross geschrieben :-)


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